EU-Beschwerde und Flexibilisierung der Dienstzeiten im WIGEV

Marina Hönigschmid für das Team Szekeres Ärztekammerwahl Wien 2022
Von Marina Hönigschmid

Direkt nach meinem Studium musste ich beruflich zunächst nach Oberösterreich, zumal man in Wien jahrelang auf einen Turnusplatz warten musste. Nach nur sechs Tagen absolvierte ich bereits den ersten Nachtdienst auf der Chirurgie und Unfallchirurgie. Eine entsprechende Einschulung durch Kolleg:innen gab es nicht. Ein Pfleger erklärte mir beim ersten Patienten, wo die Fraktur am Röntgenbild zu sehen und wie der Gips anzulegen ist. Er war es auch, der mir die unfallchirurgische Dokumentation erklärte. Der diensthabende Oberarzt war teilweise gar nicht im Haus. Um 16 und um 20 Uhr erfolgten dann zwei Spritzenrunden: Die Pflege saß beim Kaffee, die Antibiotika musste ich mir selbst mischen, da ich eine halbe Stunde zu spät aus der Ambulanz auf die Station gekommen war. Dann kam der nächste Pieps: „Komm bitte hinunter, der nächste chirurgische Patient wartet in der Ambulanz auf dich.“ So ging das 25 Stunden durchgehend – bis zu dreimal pro Woche, wenn eine Kollegin oder ein Kollege ausgefallen waren.

Keine Verbesserungen in Sicht

Am nächsten Tag ging es dann nach Hause, wo man sich fühlte, als wäre man von einem LKW überfahren worden. Zur körperlichen Anstrengung kam damals natürlich auch die fachliche Überforderung hinzu. So ging die Freude an der ärztlichen Tätigkeit rasch verloren. Denn nur alleine anwesend zu sein und zwischen den Abteilungen hin und her zu rasen, ergibt keine gute Ausbildung. Als ich später in Wien den Turnus weiterverfolgte, fragte ich in der Generaldirektion des damaligen KAV nach, wie man die anstrengenden 25-Stunden-Dienste entlasten und die vielen Wochenstunden herabsetzen könnte. Es gab dabei jedoch keine Aussicht auf Verbesserungen. Auch der Zentralbetriebsrat konnte mir nicht helfen.

Nach zahlreichen Bewerbungen ergatterte ich schließlich die ersehnte Ausbildungsstelle für Gynäkologie und Geburtshilfe. In der Zwischenzeit hatte ich bereits drei kleine Kinder bekommen. Ich bat meinen damaligen Chef um ein Ausbildungsgespräch. Dabei verlangte ich Struktur: Ich wollte wissen, wann ich wo eingeteilt werde und was von mir erwartet wird. Es gab kein Gespräch. Der Dienstplan musste stehen. Für Kinder benötigt man ein extrem gutes Zeitmanagement. Ich wollte die Kinder nicht „für den Babysitter“ bekommen haben, sondern mit ihnen Zeit verbringen, sie erziehen und natürlich gleichzeitig meine Ausbildung weiterverfolgen. Beides unter einen Hut zu bringen, war extrem schwierig. Das geht nur bei maximaler Effizienz. Damals wurde ich zufällig gefragt, ob ich mich in der Ärztekammer engagieren möchte. Ich war schon immer jemand, der Missstände aufgezeigt hat, und wurde schließlich als Mandatarin in die Wiener Ärztekammer gewählt.

Wer kümmert sich um meine Kinder?

Nach drei sehr anstrengenden Diensten binnen einer Woche auf der Geburtshilfe, in denen ich Kreissaal, Notfallambulanz und präpartale bzw. Wochenbettstation alleine zu betreuen hatte (mein Oberarzt war im Hintergrund verfügbar), saß ich völlig fertig und weinend zuhause am Sofa. Wieder einmal hatte ich von der Schule den Anruf erhalten, dass meine Tochter alleine auf der Straße steht und auf mich wartet. Ich war kaputt, unerträgliche Kopfschmerzen machten sich breit, der ganze Körper tat einfach nur weh. Wenn ich in diesen vielen Stunden Arbeit – wir waren ja jeden Wochentag anwesend, immer wieder wochenlang durchgehend ohne einen freien Tag – doch wenigstens mit dem Ausbildungsfortschritt zufrieden gewesen wäre. Was jedoch nicht der Fall war, zumal ich einfach zu viele leere Kilometer im Dienst – ein Venflon da, ein auszufüllender Zettel dort – machen musste. Dazwischen waren unzählige Entlassungsbriefe anzufertigen, dann erfolgte wieder eine stressige Geburt. Monatelang war ich in der gleichen Ambulanz eingeteilt – ohne Supervision und von der Pflege eingeschult. Ich saß also am Sofa und dachte mir: Warum hilft uns jungen Ärzt:innen niemand? Warum müssen wir uns in einem Beruf, in welchem es um Gesundheit geht, selbst kaputt machen? Warum müssen wir derart um Ausbildung und jede Minute Ruhe im Dienst kämpfen? Immer wieder aufgrund von Krankenständen in Dienste einspringen zu müssen, war ebenfalls belastend für das Arbeitsklima. Man erfuhr in der Morgenbesprechung, dass man bis zum nächsten Tag bleiben muss. Wer kümmert sich dann um die Kinder? Mein Mann hatte zu dieser Zeit ebenfalls einen sehr zeitintensiven Job.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Da kam ich in meinen Gedanken unter anderem auf die Europäische Union (EU), die bekanntlich so ziemlich alles regelt – sogar die Länge von Gurken. Ich begann im Internet zu recherchieren und fand heraus, dass es in der EU eine Arbeitszeitrichtlinie gab, die auch für Ärzt:innen galt. Österreich hatte diese Regelung im KA-AZG (Krankenanstaltenarbeitszeitgesetz) einfach nicht gemäß einem Urteil des EuGH („Jäger-Urteil“) umgesetzt. Vor allem der Umstand, dass eine freiwillige Überschreitung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden in Österreich nur von der Arbeitnehmer:innenvertretung und nicht von jeder Ärztin bzw. jedem Arzt einzeln unterschrieben werden konnte, widersprach auch für mich als rechtliche Laiin sehr offensichtlich dem EU-Recht. Mit juristischer Hilfe habe ich dann eine EU-Beschwerde gegen das illegale österreichische Gesetz verfasst. Da die Beschwerde beträchtliche Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben und auch negativ angelastet werden konnte, bat mich meine Familie, diese nicht selbst einzureichen. Nach einigen Monaten fand ich eine Person, die mutig genug war, die Beschwerde mit ihrer Unterschrift einzureichen: Der bekannte Gesundheitsökonom Dr. Ernest Pichelbauer tat dies ohne Risiken zu scheuen.

Der Rest ist dann bereits offiziell. Nach zwei Jahren Bearbeitungszeit und Prüfung durch die EU drohten Österreich wegen der von mir verfassten Beschwerde plötzlich Strafzahlungen in Millionenhöhe. Der damals für das Gesetz zuständige Sozialminister Hundstorfer konnte sogar die EU-Richtlinie über ein neues KA-AZG im Jahr 2015 umsetzen, ohne den Konsultationsmechanismus der Bundesländer fürchten zu müssen. Das heißt, dass sich die Bundesländer nicht wegen der EU-Beschwerde für entstehende Mehrkosten am Bund schadlos halten konnten. Das Gesetz wurde letztendlich nach mehreren Jahren Übergangsfrist sogar arbeitnehmer:innenfreundlicher als es die EU vorsieht. Leider hat die Politik die vergangenen Jahre jedoch wieder untätig verstreichen lassen. Das Opt-Out wäre jetzt in ganz Österreich ausgelaufen, die Bundesregierung hat es auf Wunsch und Betreiben der Bundesländer verlängert. Frei nach dem Motto: Die Ärzt:innen machen das schon zusätzlich, die paar Überstunden kommen dem Staat günstiger als endlich entsprechende Personalressourcen und Entlastung durch technischen Fortschritt zu schaffen.

Es gibt weiterhin viel zu tun

Auch das Problem der ungesteuerten Patient:innenströme in die Krankenhäuser bleibt weiterhin ungelöst. Die Hotline 1450 reicht hier einfach nicht. Dafür bleibt weiter die Finanzierung des Gesundheitswesens aus verschiedenen Töpfen für Spitäler und den niedergelassenen Bereich verantwortlich. Mittlerweile wollen laut Umfragen bereits über 80 Prozent der Kolleg:innen kein Opt-Out von der maximalen Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche unterschreiben. Vor allem die junge Ärzt:innengeneration fordert für die Arbeitszeit auch ein entsprechendes Ergebnis (Outcome) – also eine solide Ausbildung. Auch die jungen männlichen Kollegen wollen Zeit für Familie und Freizeit haben. Immer mehr Kolleg:innen gehen nach der Ausbildung sofort in die Niederlassung oder ins Ausland. Den Spitälern fehlen bald die Kapazitäten, die wichtige Spitalsbehandlung als letzte Instanz anbieten zu können.

Mehr Personal und technischer Fortschritt dringend benötigt

Im Wiener WIGEV gibt es glücklicherweise kein Opt-Out, denn auch die Stadt Wien war von Anfang an dagegen. Als Vertreterin der angestellten Ärzt:innen Wiens konnte ich nach dem Streik 2016 in Gesprächen mit dem WIGEV ein flexibles Dienstzeitmodell verhandeln. Dabei ist es möglich, 25-Stunden-Dienste einfach zu teilen. Das macht es einfacher, auf Ausfälle zu reagieren und die Dienstzeiten auf die Patient:innenströme, aber auch individuellen Bedürfnisse besser anzupassen. Leider beklagen viele Spitalsärzt:innen die erhöhte Arbeitsbelastung seit das neue Arbeitszeitgesetz 2015 eingeführt wurde. Ganz klar – die fehlenden Stunden müssten durch mehr Personal, aber auch technischen Fortschritt ausgeglichen werden. Dies erfolgt nur langsam. Darum kämpfen wir in der Ärztekammer seit Jahren. Die Pandemie hat diese Fortschritte leider verzögert. Viele Kolleg:innen arbeiten seitdem wieder im Notfallmodus. Im Jahr 2016 habe ich zum Beispiel in der WIGEV-Generaldirektion gefragt, ob die Pflegeschüler:innen in der Personalbedarfsrechnung der Patient:innenversorgung miteingerechnet sind. Das war natürlich nicht der Fall, da sie noch in Ausbildung sind. Seither fordern wir als Ärztekammer, dass ein gewisser Prozentanteil in der Personalbedarfsrechnung nur Einschulung und Ausbildung zugerechnet wird.

Ein „Das-war-schon-immer-so“ ist nicht akzeptabel

Es freut mich persönlich sehr, dass das neue Arbeitszeitgesetz bei vielen Kolleg:innen gut ankommt und Bewegung in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gekommen ist. Für meine Initiative habe ich daher von der Wiener Ärztekammer auch ein Ehrenzeichen bekommen. Der Spruch „Das war halt schon immer so“ regte mich auf, und wir haben uns wirklich ein Stück weiterentwickelt. Das neue Arbeitszeitgesetz hat auch nichts mit Faulheit zu tun. Es sichert die Verbesserung der Lebensqualität von uns Ärzt:innen ab. Die Arbeit muss effizient mit weniger Zeitaufwand durch bessere Organisation und technischen Fortschritt möglich werden. Für uns, die Patient:innen sowie unsere Kinder, die eventuell auch Ärzt:innen werden wollen.